9. Dezember 2021

Fünf Bausteine für mehr Diversität

Wie Wikimedia Deutschland mehr Frauen für den ehrenamtlichen Aufsichtsrat gewonnen hat
Autor*innen:
Mirjam Stegherr, Journalistin, Beraterin und Moderatorin; Mitglied im ehrenamtlichen Präsidium von Wikimedia Deutschland von 2019-2020
Kilian Kluge, KI-Spezialist und IT-Berater; Mitglied im ehrenamtlichen Präsidium von Wikimedia Deutschland seit 2018

 

Kilian Kluge | Bildnachweis: Matthias Wehofsky für Wikimedia Deutschland e. V.Kilian Kluge (Wikimedia Deutschland Präsidiumsklausur August 2021)CC BY-SA 4.0

Mirjam Stegherr | Bildnachweis: Mirjam Stegherr, CC BY-SA 4.0

Wikimedia Deutschland (WMDE) setzt sich als gemeinnütziger Verein für den freien Zugang zu Wissen ein und unterstützt unter anderem die Ehrenamtlichen der Wikipedia. Die derzeit circa 90.000 Vereinsmitglieder werden von einem ehrenamtlichen Präsidium vertreten, das den hauptamtlichen geschäftsführenden Vorstand beaufsichtigt. Im Jahr 2018 gab es bei der Wahl für dieses Aufsichtsgremium elf Kandidierende, darunter nur eine Frau. Nach der Wahl setzte sich das Gremium aus einer Frau und sechs Männern zusammen. Eine ziemlich schlechte Quote für einen Verein, der Vielfalt fördern und mehr Autorinnen für die Wikipedia gewinnen möchte. Daher beschloss das gewählte Präsidium gleich als erste Maßnahme, die zwei verbleibenden noch per Kooptation zu besetzenden Plätze erstmals nur für Menschen nicht-männlichen Geschlechts auszuschreiben. Auf diesem Weg konnten noch zwei weitere Frauen gewonnen werden, sodass nun zumindest ein Drittel des Gremiums weiblich war.

Um das Thema Diversität grundlegend anzugehen, setzte das Präsidium im Mai 2019 eine Arbeitsgruppe ein. Erklärtes Ziel war es, zur nächsten Wahl im Jahr 2020 mehr Kandidatinnen für das Präsidium zu gewinnen und den Frauenanteil im Gremium nachhaltig zu erhöhen. Unterstützt wurde die Arbeitsgruppe unter anderem vom Institut für Diversity Management. Gemeinsam wurden so Ziele, Empfehlungen und Maßnahmen entwickelt, die das Präsidium über die folgenden zweieinhalb Jahre hinweg Schritt für Schritt umsetzte.

Die Maßnahmen zeigten Wirkung: Zur Wahl 2020 kandidierten 11 Frauen und 11 Männer. Im schließlich gewählten Präsidium wirken seitdem vier Frauen und drei Männer. Damit liegt die Frauenquote bei 57 Prozent, viermal so hoch wie noch 2018. Wir sind überzeugt, dass auch andere Organisationen von unseren Erfahrungen lernen und mehr Diversität in ihre Aufsichtsgremien bringen können. Daher haben wir die fünf wichtigsten Bausteine unseres Erfolgs im Folgenden zusammengefasst:

1. Organisationskultur und Werte sichtbar machen

„Wir glauben an eine Welt, in der alle Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer körperlichen Beeinträchtigungen die gleichen Chancen durch Freies Wissen haben”, heißt es in unserem „Appell an die Vielfalt”. So begannen wir den Kandidatur-Aufruf für die nächste Wahl auf der komplett überarbeiteten Web-Präsenz des Präsidiums. Denn um mehr Menschen für ein Gremium zu begeistern, muss man kommunizieren, was es tut und wie es tickt. Laut unserer eigenen Umfrage für die Arbeitsgruppe reicht bei Männern vermeintlich oft der Aspekt: „Wichtig, will ich!“, während Frauen sich eher fragen: „Was mache ich da überhaupt, was bestimmt die Kultur?“ Für Vereine bedeutet das, sich von der reinen Ergebnisprotokoll-Denke zu verabschieden: Es geht nicht nur darum, Beschlüsse zu kommunizieren, sondern die Werte und die Organisationskultur sichtbar zu machen. Entsprechend werden unter anderem Interviews oder Blogbeiträge mit Präsidiumsmitgliedern bei wikimedia.de auf der Präsidiumsseite gesammelt und öffentlich bereitgestellt.

Gleichzeitig müssen sich kommunizierte Werte in handfesten Vorschriften und konkreten Maßnahmen widerspiegeln. Sonst wird es schnell unglaubwürdig. So haben wir beispielsweise eine neue Diversitäts-Quote in die Wahlordnung aufgenommen, die über Vorgaben für das Kooptationsverfahren sicherstellt, dass mindestens ein Drittel der Präsidiumsmitglieder jeweils nicht-männlichen beziehungsweise nicht-weiblichen Geschlechts sind.

2. Vorbilder sichtbar machen

Wer bestimmte Personengruppen für ein Gremium gewinnen will, sollte zeigen, dass sie dazugehören. Wikimedia hatte zwar Frauen im Präsidium, sehr präsent aber waren sie in der Öffentlichkeit nicht. Das lag unter anderem daran, dass der Vorsitzende stets ein Mann war, auch wenn der Posten der Stellvertretung seit 2016 immer von einer Frau bekleidet wurde. Die Präsidien waren in Summe überwiegend männlich besetzt. In vielen anderen Aufsichtsgremien sieht es ähnlich aus. Dennoch gibt es Möglichkeiten, Frauen mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Wir haben mit aktuellen und ehemaligen Frauen aus dem Präsidium Interviews geführt, ihre persönlichen Erfahrungen und Perspektiven in einer veröffentlicht und in Social Media zusammen mit dem Kandidatur-Aufruf geteilt. Ein anderes Beispiel: Zu den Mitgliederversammlungen lädt der Vorsitzende des Präsidiums per Schreiben alle Vereinsmitglieder gemeinsam mit seiner Stellvertreterin ein, statt wie zuvor nur in seinem Namen. Vielleicht motiviert das auch Frauen, demnächst als Vorsitzende zu kandidieren.

3. Gute Bedingungen für das Engagement schaffen und kommunizieren

Auch wenn die Zuschreibungen nerven: Frauen haben mitunter andere Fragen und Anforderungen an ein ehrenamtliches Engagement als Männer. Oder alleinerziehende Väter. Oder Menschen mit einer Beeinträchtigung. Eine solche Frage könnte sein, ob es Fortbildungen für das Präsidium gibt, wie oft Treffen stattfinden, ob die Teilnahme barrierefrei oder auch nur virtuell möglich ist,  ob es Kinderbetreuung gibt und wie viel Zeit  für die Gremienarbeit investiert werden muss. In anderen Worten: Es geht um die in der Organisation bestehenden Bedingungen und Unterstützungsstrukturen, die den Ausschlag für oder gegen ein Engagement geben.

Wir haben solche Fragen nicht nur im Vorfeld der Wahl individuell beantwortet, sondern schon frühzeitig aus unterschiedlichen Blickwinkeln gesammelt und evaluiert. Auf dieser Grundlage haben wir umfangreiche Maßnahmen zur Entlastung von Präsidiumsmitgliedern – insbesondere solchen mit familiären Verpflichtungen – umgesetzt. Dazu gehörten unter anderem eine regelmäßige Evaluation des Zeitaufwands und der Optionen, diesen weiter zu verringern. Zudem haben wir die rechtlich abgesicherte Möglichkeit geschaffen, an praktisch allen Sitzungen und Abstimmungen dank digitaler Optionen auch ohne Anwesenheit am Sitzungsort teilzunehmen. Darüber hinaus gibt es bei Wikimedia Deutschland starken hauptamtlichen Support für das Präsidium: Präsidiumsmitglieder haben klare Ansprechpartner*innen, mit denen benötigte Unterstützung wie beispielsweise Kinderbetreuung oder Fortbildungen individuell abgestimmt werden kann. Damit so viel Zeit wie möglich für die inhaltliche Arbeit bleibt, nimmt die Geschäftsstelle den Präsidiumsmitgliedern Aufgaben wie Buchungen, Protokolle, Recherchen oder Terminkoordinationen ab. Und wenn die persönliche Lebenssituation einmal besonders wenig Zeit lässt, können Präsidiumsmitglieder temporär auch durch stärkere hauptamtliche Zuarbeit entlastet werden. Diese Informationen hatten wir vor den Wahlen öffentlich für alle Interessierten auf einer eigenen Seite der WMDE-Webseite bereitgestellt. Das ist nicht nur sehr hilfreich, sondern zeigt auch, dass es ein echtes Interesse gibt, neue Menschen für dieses Ehrenamt zu gewinnen und Räume für das Engagement von Menschen mit Familie zu schaffen. 

4. Sprache und Bilder anpassen, ausgrenzende Biases beseitigen

“Kandidaten gesucht!”, dazu noch ein Bild, auf dem nur Männer zu sehen sind: Das ist Schnee von vorgestern. Wer mehr Diversität will, muss Sprache und Bilder auf den Prüfstand stellen. Gendersensible Formulierungen und eine Bildsprache, die sich an alle Menschen richtet, sind in der Kommunikation rund um Diversität essentiell. Bei Wikimedia Deutschland haben wir in der Kommunikation schon seit vielen Jahren in unterschiedlicher Form geschlechtersensible Sprache genutzt. Im September 2021 haben unsere Vereinsmitglieder daran anschließend die Anpassung von Satzung und Vereinsordnungen an den geschlechtersensiblen Sprachgebrauch beschlossen. Unsere Kandidaturaufrufe haben wir mit dem Institut für Diversity Management auf ausgrenzende Biases, also auf Voreingenommenheit und Einseitigkeit, die diskriminierend wirken können, überprüft und diese beseitigt. 

5. Frauen ansprechen und aktives Recruiting aufbauen

Um Frauen zu gewinnen, können wir uns nicht darauf verlassen, dass sie einen Aufruf finden und sich bewerben – es gilt, sie anzusprechen, aufzufordern und zu ermutigen. Im direkten Gespräch können wir selbstkritischen Frauen die Angst nehmen, anzutreten oder mit ihrer Kandidatur „zu scheitern“. Idealerweise gibt es regelmäßige Kontaktpunkte zwischen Präsidium, Vereinsmitgliedern und Interessierten sowie klare Zuständigkeiten für die Ansprache. Zentral dabei ist, dass die nötigen Strukturen für ein aktives Recruiting aufgebaut werden – andernfalls ist die Gefahr groß, dass es nur bei gutem Willen und Absichtserklärungen bleibt. So hat sich das Präsidium von Wikimedia Deutschland vor den Wahlen im Jahr 2020 erstmals klare Diversitätsziele für das Recruiting gesetzt. Die Kandidat*innenansprache wurde durch ein neu geschaffenes Wahlkomitee koordiniert, das auf hauptamtliche Unterstützung zurückgreifen konnte. Alle Interessierten wurden auf Wunsch persönlich beraten und konnten sich so vor einer Kandidatur detailliert über Wikimedia und das Amt informieren.

Ein weiterer Aspekt, der einfach umzusetzen ist, aber große Hebelwirkung entfaltet, ist der Faktor Zeit: Die Zeitspanne zwischen Aufruf und Bewerbungsfrist sollte lang genug sein. Viele Frauen wägen länger ab, ob sie kandidieren, manche stimmen sich mit Partner*innen und Familie ab. Das zu berücksichtigen, nimmt eine wichtige Hürde auf dem Weg zu mehr Diversität.

Wir haben es also geschafft, unser Aufsichtsgremium – zumindest was den Anteil an Frauen betrifft – diverser aufzustellen. Für uns ist dies ein wirklich bedeutender Erfolg. Dennoch ist klar: Das ist nur ein Teilerfolg auf dem Weg hin zu mehr Diversität. Denn als ein Verein, der das Wissen allen Menschen zugänglich machen will, ist es unsere Verantwortung, allen eine Teilhabe zu ermöglichen, die sich für die Vereinszwecke einsetzen wollen.

Mehr zu Feminist Leadership

Feminist Leadership, oder auch Feministische Führungskultur, ist ein Konzept, das vorwiegend von Frauen und Frauenrechtsbewegungen aus dem Globalen Süden entwickelt und praktiziert wurde. Über die letzten Jahren hielt dieses Konzept Einzug in den internationalen sozialen Wirkungssektor. Auch FAIR SHARE of Women Leaders arbeitet zur praktischen Umsetzung von Feminist Leadership, zuletzt mit der Publikation “Agenda für den Wandel” und einer 8-wöchigen Webinarreihe zu verschiedenen feministischen Prinzipien.