4. Januar 2024
So gelingt das Diversitäts-Management in der Zivilgesellschaft
Ein Gespräch mit Siri Hummel, Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft
Autorin: Lea Holst, Projektmanagerin FAIR SHARE of Women Leaders
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGOs) streben nach mehr Diversität innerhalb ihrer Belegschaft. Zum einen, um die gemeinwohlorientierte Arbeit intern umzusetzen und zum anderen, um bestehenden gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden – keine leichte Aufgabe, denn dies verlangt bewusste und konsequente Veränderungen seit Jahrzehnten bestehender Praktiken. Wie können ZGOs diese Aufgabe angehen? Hierüber haben wir mit Siri Hummel gesprochen, Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, und Initiatorin und Mit-Autorin der 2023 veröffentlichten Studie „Da ist Diverses möglich – Wege der Umsetzung von Diversität und Inklusivität¹ in zivilgesellschaftlichen Organisationen“. Ziel war es, die Wurzeln des Problems bei der Umsetzung von Diversität und Inklusivität zu ergründen und über Auswege und Hebelfunktionen zu sinnieren. Schließlich es ist längst überfällig, dass sich die Diversität in unserer Gesellschaft auch in ZGOs widerspiegelt.
Siri Hummel | Fotocredit © Maecenata Institut
Das „Diversitätsproblem“ der Zivilgesellschaft.
Unsere Gesellschaft zeichnet sich durch eine wachsende aufgrund von “massiven sozialen und demographischen Veränderungen” aus (Hummel et. al. 2023: 5). In Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Wohlfahrtsverbänden spiegelt sich diese bislang jedoch nicht wider. Vielen ZGOs fällt es schwer, die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre in die eigene Organisationsstruktur zu übersetzen. Wir sehen dies im Bereich Geschlechtergerechtigkeit z.B. in den Ergebnissen des FAIR SHARE Monitors. Mit einem durchschnittlichen Verhältnis von rund 70% Frauenanteil in der Belegschaft zu etwa 40% Frauenanteil in Führungspositionen, bleibt die strukturelle Ungleichverteilung auch im vierten Jahr der Erhebung nahezu unverändert, obwohl Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit bestehen. Es ist bekannt, dass tiefgreifende Veränderungen Zeit brauchen und nicht von heute auf morgen geschehen. Jedoch wäre es zu einfach, fehlendes Diversity-Management mit historisch gewachsenen Strukturen zu rechtfertigen. Komplexität kann nicht als Ausrede dafür dienen, sich nötigen Veränderungen gegenüber zu verschließen.
Auch Siri Hummel beobachtet, dass die Umsetzung effektiver Maßnahmen zum Abbau von Ungerechtigkeiten eine komplexe Aufgabe ist, die viele ZGOs vor Probleme stellt. Die heutige Lücke im Umfang des Diversity-Managements von ZGOs, die sich natürlich nicht nur auf Geschlechterungleichheiten beschränkt, sondern das mehrdimensionale Konzept von Diversität in jedweder Unterschiedlichkeit von Menschen aufgreift, hat drei Gründe.
(1) Zum einen, die Prekarisierung des Sektors. ZGOs sind gewissen Sachzwängen unterworfen. Häufig fehlt es an Ressourcen: Geld, Zeit und Personal sind zumeist knapp bemessen.
„Wir haben einfach oft kleine Organisationen, die nur sehr wenig Personal haben, die sehr eng getaktet, sehr eng gestrickt sind. Es sind sogenannte Sachzwänge, die da entscheidend sind, weil die Ressourcen fehlen.“
Siri Hummel, Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft
(2) Gleichzeitig ist es aber auch eine Frage des Mindsets in seiner oft konservativen Prägung, das Veränderungen verlangsamt. Eine Führungsebene neu aufzustellen, die seit Jahrzehnten vornehmlich weiß und männlich geprägt wurde und sich aus Netzwerken und traditionsreichen (Familien-) Konstellationen speist, lässt sich auf den ersten Blick nur schwer aufbrechen. Führungspraktiken sollen hier nach vielen Jahren verändert werden, was für viele Meschen bedeutet, dass sie Macht einbüßen und abgeben müssen. Dieser Aussicht wird zumeist mit einer Abwehrreaktion begegnet. Dabei kann Macht so viel mehr bedeuten als „Macht über“ etwas oder jemenschen, wie wir es aus unserer von Hierarchie und Patriarchat geprägten Arbeitswelt kennen. So können wir Macht auch als kollektive Errungenschaft verstehen, die, wenn ein gemeinsamer Nenner gefunden ist, von Vielen gemeinsam genutzt wird und so eine größere Wirkung entfaltet (Macht mit). Fördern wir das Potenzial, also die Macht in und von verschiedensten Menschen, auch jenen, die wir häufig überhören, entstehen Ansätze, von denen alle profitieren (Macht zu). Hierbei gilt es, Entfaltungsräume zu schaffen, in denen jede*r Einzelne den eigenen Beitrag zur Organisationsgestaltung und Entwicklung erkennt (Macht in uns).  Die derzeit dominierenden Ansätze von wenigen machtvollen Personen in Führung sind nicht mehr zeitgemäß und ein Grund für das ineffektive Diversity-Management in ZGOs.
(3) Darüber hinaus hadern ZGOs laut Siri Hummel häufig mit der Umsetzung von Inklusivität und Diversität, weil der Druck von außen nicht groß genug ist. Zwar besteht der eingangs beschriebene normative Druck, jedoch sind die formalen Auflagen im Vergleich zum staatlichen und wirtschaftlichen Sektor gering. Hinzu kommt, dass die Zivilgesellschaft aus vielen kleinen Organisationen besteht, die jeweils unabhängig voneinander diversitätsbewusste Maßnahmen in die Wege leiten müssen. Sprächen wir von einer großen Organisation bräuchte es nur ein Konzept, das mit den Zielen der ZGO und ihrer Organisationsstruktur im Einklang steht.
Ganz praktisch. Wege der Umsetzung von Diversität und Inklusivität
Im Zuge dieser Herausforderung der Umsetzung von Diversität und Inklusivität in vielen kleinen, ggf. traditionsreichen und in ihren Ressourcen begrenzten Organisationen, hat das Maecenata Institut progressive und anwendungsorientierte Ansätze der Umsetzung von Diversität und Inklusivität in ZGOs in der von der DSEE geförderten Studie zusammengetragen. Hierbei wurden neun Diversitätsdimensionen untersucht: Alter, psychische oder physische Beeinträchtigungen, Migrationshintergrund, BIPoC, Geschlecht und Gender, sexuelle Orientierung, soziale Herkunft, regionale Herkunft, Religion und Weltanschauung und die effektiven Maßnahmen in diesen Bereichen im Sinne der Komplexreduzierung in einem Modell zusammengetragen. Das „SETT Modell“ gliedert sich in die Bereiche, an denen Organisationen anknüpfen und einen ersten Überblick erhalten können: Sensibilisierung, Empowerment, Teilhabe und Transparenz (SETT).
Die Sensibilisierung steht für die Reflexionsphase, in der das Verhalten in der Organisation bewusst machtkritisch im Hinblick auf Diversität und Inklusion hinterfragt wird und die wichtigsten Handlungsbedarfe definiert werden. Im zweiten Schritt, dem Empowerment, treten die Organisationen bewusst in Aktion, um Hürden für marginalisierte Gruppen abzubauen, bspw. im Einstellungsprozess, indem Qualifikationen nicht zu eng definiert werden. Ähnlich wie bei dem Ansatz von „Macht in uns“ geht es bei dem Bereich Teilhabe darum, die Selbstwirksamkeitserfahrungen von Mitarbeiter*innen zu stärken, ihr eigenes Wirken in der Arbeit (-s und Organisationskultur) durch einen gewissen Handlungsspielraum zu erleben. Der gesamte Prozess des Diversity-Managements muss zudem von Transparenz – intern und extern – begleitet werden, um Erfolge und Misserfolge der Maßnahmen sichtbar zu machen. So können Fortschritte benannt und Handlungsspielräume erkannt werden.
Das „SETT Modell“ macht es mit diesen konkreten Ansatzpunkten möglich einen Anfang für mehr Diversität und Inklusivität in zivilgesellschaftlichen Organisationen zu finden. Dabei ist es jedoch nicht damit getan, die einzelnen Dimensionen einmalig anzugehen. Vor dem Hintergrund der Komplexität der Aufgabe und der stetigen Weiterentwicklung der Konzepte und Ansprüche rund um Diversität und Inklusion sowie der eigenen Organisationsstruktur, insbesondere in kleinen ZGOs, dreht sich die Implementierung eines effektiven Diversity-Managements in Reflexionsschlaufen.
Ansätze für ein effektives Diversität-Management
Gender und Geschlecht sind in der Studie des Maecenata Instituts nur eine von vielen Diversitätsdimensionen. Es zeigte sich in den Untersuchungen, dass feministische Organisationen vergleichsweise diversitätssensibler handeln als andere ZGOs, weil sie „sich mit der Gleichstellung bestimmter Gruppen bereits auseinandergesetzt haben“ (Hummel 2023: 55). Feministische Organisationen oder jene, die feministische Führungs- und Organisationskultur praktizieren, sorgen demnach nicht nur für mehr Geschlechtergerechtigkeit, sondern denken andere Formen von Marginalisierung mit. Wir haben Siri Hummel daher gefragt, ob die Kategorie Gender und Geschlecht damit der Antrieb für ein effektives Diversitätsmanagement ist.
„Ja, ich glaube definitiv, dass [die Kategorie Gender und Geschlecht] ein Treiber für ein intersektionales Diversitätsmanagement sein kann im Sinne von feminist Leadership (…) im Bewusstsein um machtkritische Strukturen. Das Problem auch in der Gleichstellung ist nicht, dass wir ein biologisches Geschlecht haben, sondern das Problem ist, dass (…) soziale Ungleichheiten entlang von Geschlechterlinien verlaufen.“
Siri Hummel, Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft
Mehr Frauen in Führung allein lösen das Problem also nicht, denn auch sie können patriarchale Organisationsstrukturen reproduzieren. Vielmehr geht es um ein ganzheitliches Hinterfragen des Systems mit dem Ziel einer antipatriarchischen und machtkritischen Arbeitswelt. Mit diesem Ansatz unweigerlich verknüpft sind Fragen rund um Diversität und Inklusivität:
- Sensibilisierung – wann agieren wir nicht diversitätssensibel?
- Empowerment – wo können Potentiale besser genutzt werden?
- Teilhabe – Wann, wo und von wem werden Entscheidungen getroffen? Wo grenzen wir (unbewusst) aus?
- Transparenz – zeigen wir auf, wie und warum bestimmte Entscheidungen getroffen werden?
Die Wahrscheinlichkeit, dass machtsensible Fragen gestellt werden, ist in heterarchischen Systemen² ohne ein starres Top-Down-Management höher als in hierarchischen. Somit wird auch ein konsequentes Diversitäts-Management wahrscheinlicher, jedoch nicht immer schneller. Denn fokussiert die Führungsebene einer hierarchischen Organisation einen machtkritischen Ansatz, werden Veränderungsmaßnahmen angeordnet und möglichst zeitnah umgesetzt. Auch hier finden sich Beispiele in der Studie des Maecenata Instituts. So haben verschiedene Organisationssysteme in der Zivilgesellschaft ihre Vor- und Nachteile, doch Diversität und Inklusivität können überall ihren Platz finden, wenn Einsatzbereitschaft und Bewusstsein seitens der zentralen Akteur*innen vorhanden ist. Am effektivsten sei es jedoch, wenn die Umsetzung sowohl top-down als auch bottom-up und in einem holistischen Ansatz, also ganzheitlich umfassend, gelingt.
Eine weitere Stellschraube für die Umsetzung von Diversität und Inklusivität liegt bei den Fördermittelgeber*innen. Viele Organisationen, die im Rahmen der qualitativen Studie untersucht wurden, gaben an, dass Vorgaben in der Fördermittelvergabe den Anstoß für ein bewusstes Diversitätsmanagement gegeben haben. Das ist nicht verwunderlich vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der ZGOs in Deutschland von öffentlichen Mitteln abhängig ist (Quelle einfügen). Wenn Diversität und Inklusivität Bedingungen für eine Förderung sind, werden sie auch umgesetzt. Diese Hebelfunktion in den Händen der Förderer*innen wird jedoch besonders in Deutschland – im Gegensatz z.B. zu von der europäischen Union geförderten Projekten – noch nicht ausreichend ausgeschöpft, wie Siri Hummel betont:
„Da müssen wir weiter in die Diskussion gehen, dass das Bewusstsein [über die Hebelfunktion] noch viel stärker gemacht wird und dass die Förderer das auch strategisch in Anführungszeichen einsetzen können, weil (…) Bewegung funktioniert natürlich extrem gut, wenn du es machen musst, um deine Fördermittel zu bekommen. Wichtig ist jedoch, dass dann in den Fördermitteln auch explizit Mittel ‘on top’ dafür bereitgestellt werden, quasi wie ein Overhead. Das ist (…) ein Key Point, den ich noch viel stärker diskutiert haben möchte.“
Siri Hummel, Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft
Letztlich ist die Umsetzung von Diversität und Inklusivität in der Zivilgesellschaft ein komplexes und langfristiges Thema, das ein hohes Maß an Selbstreflexion auf individueller und kollektiver Ebene verlangt. Die Studie des Maecenata Instituts bietet auch für kleinere ZGOs mit wenig Ressourcen Ansätze, um den internen und äußeren Ansprüchen an ein Diversitätsmanagement gerecht zu werden. Mut machen kann dabei der Hinweis, dass es hierbei nicht den einen richtigen Weg gibt, denn ZGOs sind, wie Menschen auch, vielfältig.
¹Diversität: “Diversität [dient der] (…) Beschreibung der Repräsentation, Anerkennung, Förderung und dem Verständnis von diversen Lebensumständen und -realitäten und ganz allgemein [von] Unterschiedlichkeiten von Menschen (…)” (Hummel 2023: 8). Inklusitivät: „Der Begriff mit dem der Inklusivität verbunden, der als der Grad verstanden wird, zu welchem Menschen sich als Teil kritischer organisatorischer Prozesse verstehen und die Fähigkeit, voll und effektiv an organisationalen Prozessen teilzunehmen, ausgebildet haben“ (Hummel 2023: 8).
² “Die Heterarchie wird als Idealtyp einer sich selbststeuernden, polyzentrischen Organisation aufgefaßt, die über die Fähigkeit verfügt, eine spontan hervorgebrachte, problemorientierte Struktur auszubilden, in der das verteilte Wissen der Organisation auch ad hoc zusammengeführt werden kann” (Reihlen 2009).
Literatur
Hummel, S., Pfirter, L., & Gerner, F. (2023). Da ist Diverses möglich – Wege der Umsetzung von Diversität und Inklusivität in zivilgesellschaftlichen Organisationen. (Opuscula, 174). Berlin: Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-86767-0
Just Associates (2006): Making Change Happen: Concepts for Revisioning Power for Justice, Equality and Peace.
Reihlen, Markus. (2009). Führung in Heterarchien.
Mehr zu Feminist Leadership
Feminist Leadership, oder auch Feministische Führungskultur, ist ein Konzept, das vorwiegend von Frauen und Frauenrechtsbewegungen aus dem Globalen Süden entwickelt und praktiziert wurde. Über die letzten Jahren hielt dieses Konzept Einzug in den internationalen sozialen Wirkungssektor. Auch FAIR SHARE of Women Leaders arbeitet zur praktischen Umsetzung von Feminist Leadership, zuletzt mit der Publikation “Agenda für den Wandel” und einer 8-wöchigen Webinarreihe zu verschiedenen feministischen Prinzipien.